Diskussion: Agiles PM im Großanlagenbau

Agile Management in großen Investitionsprojekten – macht das Sinn?

Agile Methoden werden zur Zeit nicht nur in Projekten als Wunderwaffe gepriesen, sondern sollen auch Unternehmen schlanker, effizienter und schneller machen. Tatsächlich sind die Berichte über erfolgreiche Projektabwicklungen nach agilen Methoden insbesondere im Softwarebereich (z.B. Spotify) beeindruckend. Tatsächlich wurden die Methoden des Agile Managements für die Softwareentwicklung in volatilen Umfeldern entwickelt.

Neben der Optimierung von Software-Projekten soll das Agile Management aber auch Unternehmen und Projekte auf komplexe, volatile Umwelten einstellen und ausrichten, unabhängig von der Branche und der Herkunft des Unternehmen.

Wie können also andere Branchen im Rahmen Ihrer Projektrealitäten von den Methoden, Ansätzen und Denkweisen profitieren, um ihrerseits erfolgreicher zu werden? Wie ist es mit der Übertragbarkeit auf große, komplexe Investitionsprojekten, wie sie im Großanlagenbau, in der Baubranche oder im Infrastrukturbereich gängige Praxis sind?

Software- und Hardwareentwicklung bewegen sich aufeinander zu

Zunächst mag es verwundern, dass überhaupt nach Parallelen und Übertragungen für große Investitionsprojekte gesucht wird. Klassische Großprojekte zeichnen sich in der Regel durch klare vertragliche Zielvereinbarungen aus. In agilen Projekten steht aber gerade das Projektziel zur Disposition und wird, wenn nötig, aufgegeben oder neu ausgerichtet. Diese Option gibt es in Auftragsprojekten nur selten, denn der Investor erwartet die Umsetzung der vertraglich vereinbarten Ziele. Andererseits gibt es Treiber, die es sinnvoll erscheinen lassen, über die Umsetzung agiler Methoden und Denkweisen in Investitionsprojekten nachzudenken:

  1. Die IT beherrscht mehr und mehr die Entwurfs- und Engineeringphasen. Begriffe wie CAD/CAE, Digital Mook up, BIM, Digitaler Zwilling, CDE (Common Data Environment) belegen nun bereits seit Jahrzehnten diesen Trend.
  2. Hard- und Software gehen eine immer stärkere Symbiose ein. In vielen Bereichen steigt die Komplexität der Produkte. Die Steuerung und Einsetzbarkeit der Produkte wird immer stärker von der integrierten Software bestimmt. Dies gilt nicht nur im Automobil-, Schiffs- und Flugzeugbau, sondern auch im Maschinen- und Anlagenbau bis hin zum allgemeinen Hochbau. So wird die Beherrschung des Softwareengineerings zu einem wesentlichen, wenn nicht gar dem bestimmenden Erfolgsfaktor.
  3. Auch Investitionsprojekte stehen in einem immer volatileren Umfeld. Märkte verändern sich, Zielstellungen werden in Frage gestellt oder müssen neu ausgerichtet werden. Gerade Projekte mit langen Laufzeiten stehen öfter vor der Frage, ob eine Umsetzung der ursprünglichen Ziele noch sinnvoll ist. Anpassungen werden zur Regel. Die Fähigkeit Moving Targets erfolgreich zu managen, wird immer wichtiger [1].
 

Agile Management ist geprägt durch Agile Mindset

Das wesentliche am Agile Management ist der Mindset. Zur erfolgreichen Anwendung ist dieser wichtiger als die konkreten Methoden [2].

Merkmale dieses Agile Mindsets sind:

  1. Die Fokussierung auf inkremente Value-Creation
  2. Selbstorganisation und pers. Freiräume zur Beherrschung eines volatilen, komplexen Umfeldes
  3. Reduzierung von äußerer Komplexität durch Vermeidung von Multi-Tasking, Konzentration auf ein Projekt ohne Störung
  4. der freie, schnelle und direkte Flow von Informationen sowie die
  5. fortlaufende Hinterfragung und ggf. Neujustierung der Handlungen des Einzelnen, der Gruppe bzw. des Teams (in Scrum Framework z.B. im Rahmen einer Retrospektive)

 

Agile Mindset ist eine Bereicherung

Für komplexe Umgebungen muss sich ein adäquates Projektmanagement auf Folgendes einstellen:

  1. die sog. schwache Kausalität: Hier sind lineare Vorgehensmodelle nicht mehr anwendbar und nicht zielführend
  2. Veränderung der Projektziele ist wahrscheinlich
  3. Planbarkeit besteht bestenfalls für kurze Zeitabschnitte
  4. Erfolg wird garantiert durch Handeln zum richtigen Zeitpunkt durch vorsichtiges Tasten und Setzen von Impulsen und somit einer ständigen Reflexion und ggf. Neujustierung des eigenen Verhaltens. [3]


Vergleicht man diese Punkte mit den obigen Merkmalen des agilen Mindsets, so ist leicht ersichtlich, dass der Agile Mindset als direkte Antwort auf ein Management unter chaotischen Bedingungen betrachtet werden kann. Der Agile Mindset stellt somit eine Bereicherung für das Management komplexer Großprojekte dar. Doch wo liegen die Anwendungsmöglichkeiten und ihre Grenzen?

Grenzen Agiler Methoden in Großprojekten

Softwareprojekte zeichnen sich durch einen großen Gestaltungs- und Lösungsraum aus. Auch können Änderungen selbst in späten Abwicklungsphasen relativ einfach umgesetzt werden. Ein zusätzlicher, wesentlicher Aspekt des Agile Managements ist es, dass Teillösungen umsetzbar sind und bereits einen Kundennutzen haben.

Anlagen und Bauprojekte verhalten sich in der Regel anders. Der Lösungsraum wird von Projektphase zu Projektphase stärker eingegrenzt. Änderungen kosten immer mehr, je später sie eingesteuert werden. In späten Phasen sind sie oft finanziell nicht mehr zu rechtfertigen.

Auch wird ein wirklicher Kundennutzen in der Regel erst erreicht, wenn das Gebäude oder die Anlage wirklich fertiggestellt und vollständig in Betrieb genommen wurde.
Modular aufgebaute Systeme sind dann hilfreich, wenn die Module jeweils einen eigenen Nutzen haben. Gleichzeitig reduzieren sie die Komplexität und machen von daher einen agilen Managementansatz gegebenenfalls überflüssig.

Neben diesen generellen Betrachtungen können aber auch regulative Gründe vorliegen, die eine Einführung Agiler Methoden erschweren, wenn nicht gar verhindern. So verlangen z.B. Sicherheitsaspekte im Pharmaanlagenbau ab Beginn der Designphase ab dem AFD Status (Approved For Design) eine klare schriftliche Dokumentation aller Änderungen. Eine umfassende Dokumentation zu Gunsten einer schnelleren funktionalen Umsetzung zu vernachlässigen, wie im Agilen Manifest beschrieben [4] verhindert in diesem Umfeld die Erteilung der Betriebserlaubnis.

Im Baubereich wiederum steht die HOAI selbst einer hohen Änderungsdynamik entgegen. Vergütungen orientieren sich an kalkulatorischen Werten oder an tatsächlich anrechenbaren Kosten des Bauwerks. Ein Planer wird immer an der schnellen Umsetzung interessiert sein. Das Vergütungsmodell bevorzugt also einen linearen Planungsansatz. Iterationen zur Optimierung, die das Vereinbarte wieder in Frage stellen, werden finanziell nicht belohnt.

Anwendungsmöglichkeiten des Agile Managements und das Management der Projektphasen

Agiles Management ist besonders in frühen Projektphasen geeignet, kreative Konzepte zu entwickeln. Der Lösungsraum ist offen, physische und/oder finanzielle Restriktionen schlagen kaum durch und der schnelle Austausch von Informationen, die Integration der Nutzer, des Kunden sowie weiterer Stakeholder ist auch hier wesentlich.

Im Verlauf des Projektes werden die Restriktionen von Phase zu Phase größer und konzentrieren sich zunehmend auf die Umsetzung konkreter Ziele. Wie unterschiedlichen physikalischen Phasen oder Aggregatzustande (gasförmig, flüssig, fest) verhalten sich auch die Projektphasen unterschiedlich und erfordern ein angepasstes Management.

Folglich rücken im Verlauf der Abwicklung klassische PM-Methoden in den Vordergrund und Agile Vorgehensweisen treten zurück. Es ist also nicht verwunderlich, dass gerade im Baustellenbereich heute Lean Management Methoden mit ihrem Ursprung im Produktionsbereich übertragen werden und von Agile Management kaum die Rede ist.

Und dennoch, in volatilen Umwelten bleibt es nicht aus, sich selbst und auch das bereits Vereinbarte zu hinterfragen, sich den veränderten Umständen anzupassen und sich neu aufzustellen. In diesen Momenten können ein agiler Mindset und agile Methoden auch in klassischen Projekten, quasi als Inseln der Agilität, hilfreich sein und unterstützend wirken.

Was kann Agile Management in Investitionsprojekten?

  1. Agile Management ist im wesentlichen geprägt durch einen Mindset, der im Ansatz durch die Formulierungen des Agilen Manifestes [4] umschrieben wird.

  2. Dieser Mindset ist auch in der Abwicklung von großen Investmentprojekten hilfreich. Dies gilt sicher für frühe Projektphasen zum anderen aber auch, wenn eine starke Kausalität nicht mehr gegeben ist. Praktisch können hierunter Krisen bzw. große Entscheidungspunkte jeder Art verstanden werden, die unsere vertrauten Denk- und Handlungsmuster in Frage stellen.

  3. Als ein extremes Beispiel verweise ich gern auf einen Artikel im Harvard Business Review vom July-August 2014 über das Handling der Fukushima-Katstrophe in einem 2. Kernkraftwerk, in dem eine Kernschmelze, trotz der auch hier hereinbrechenden Naturkatastrophe, verhindert werden konnte.

  4. Agile Management flexibilisiert Unternehmen und macht sie fit für eine permanente Anpassungsfähigkeit in volatilen Umwelten (wie zum Beispiel im Rahmen der fortschreitenden Digitalisierung unserer Gesellschaft).  Auch das Projektmanagement war angetreten, Linienorganisation zu flexibilisieren und wandlungsfähiger zu machen. Auf Unternehmensebene wird der Fokus gelenkt auf Prozesse, die einen Kundennutzen (die Projektziele) möglichst effizient erfüllen.

  5. Damit stehen Agile Management und Projektmanagement vom grundsätzlichen Mindset her nicht im Widerspruch zu einander. Allerdings verschiebt der immer schnellere gesellschaftliche und technologische Wandel die Verhältnisse zunehmend in Richtung Agile Management. Davon werden auch klassische Investitionsprojekte nicht verschont bleiben.

  6. Es ist jedoch nicht zu erwarten, dass Agile-Management über alle Projektphasen hinweg die richtige Wahl ist. Im Gegenteil, es ist davon auszugehen, dass späte Umsetzungsphasen durch klassische PM-Methoden weiterhin sehr gut gemanagt werden, ausgenommen Situationen, die durch die bereits erwähnten Inseln der Agilität charakterisiert sind.

  7. Dabei sollte klar sein, für beide Bereiche gilt, die entsprechenden Methoden sind konsequent anzuwenden.

Somit ist bei einer geplanten Transformation zur Agilen Projektabwicklung oder zum Agilen Unternehmen sehr genau zu analysieren, in welch einem Umfeld man sich bewegt. Bis zu welchem Grad wird Agilität benötigt oder ist nicht eine hybride Organisation und Vorgehensweise gefragt?

Inseln der Ordnung in Agilen Unternehmen und Inseln der Agilität in eher klassisch strukturierten Projekten und Unternehmen sind nicht ausgeschlossen.

[1] Digitalisierung im Projekt- und Prozessmanagement, Volker Engelke, Nov. 2016, Consenzum Unternehmerbrief
[2] Management 4.0: Handbook for Agile Practices, Release 3, Alfred Oswald und Wolfram Müller (Herausgeber), 2019, BoD – Book on Demand,
[3] Chaos und Projektmanagement – Ein Beitrag zur Entwicklung eines neuen PM – Verständnisses, Volker Engelke , 1996, veröffentlicht in der Fachzeitschrift ‚Projekt Management’ 4/96 der Deutschen Gesellschaft für Projektmanagement (GPM)
[4] http://agilemanifesto.org/iso/de/manifesto.html, aufgerufen 18.11.2020
[5] How the other Fukushima Plant Survived, Ranjay Gulati, Charles Casto und Charlotte Krontiris, Havard Business Review, July-Aug 2014

Danksagung:

Meinen herzlichen Dank für Ihre Unterstützung und wertvolle Diskussion geht insbesondere an die Mitglieder der GPM Fachgruppe Agile Management der GPM: Herrn Dr. Alfred Oswald (IFST – Institute for Social Technologies GmbH, Aachen), Herrn Prof. Dr. Helge Nuhn (Leiter der GPM-Fachgruppe Agile Management, Wilhelm Büchner Hochschule Darmstadt), Frau Katharina Lennartz (RWTH – Lehrstuhl für Baubetrieb und Projektmanagement, Aachen) sowie an Herrn Dipl.-Ing. Eike Eilks (Berater und Interim-Manager in den Bereichen Projektabwicklung und Digitalisierung)