Agile Methoden werden zur Zeit nicht nur in Projekten als Wunderwaffe gepriesen, sondern sollen auch Unternehmen schlanker, effizienter und schneller machen. Tatsächlich sind die Berichte über erfolgreiche Projektabwicklungen nach agilen Methoden insbesondere im Softwarebereich (z.B. Spotify) beeindruckend. Tatsächlich wurden die Methoden des Agile Managements für die Softwareentwicklung in volatilen Umfeldern entwickelt.
Neben der Optimierung von Software-Projekten soll das Agile Management aber auch Unternehmen und Projekte auf komplexe, volatile Umwelten einstellen und ausrichten, unabhängig von der Branche und der Herkunft des Unternehmen.
Wie können also andere Branchen im Rahmen Ihrer Projektrealitäten von den Methoden, Ansätzen und Denkweisen profitieren, um ihrerseits erfolgreicher zu werden? Wie ist es mit der Übertragbarkeit auf große, komplexe Investitionsprojekten, wie sie im Großanlagenbau, in der Baubranche oder im Infrastrukturbereich gängige Praxis sind?
Das wesentliche am Agile Management ist der Mindset. Zur erfolgreichen Anwendung ist dieser wichtiger als die konkreten Methoden [2].
Merkmale dieses Agile Mindsets sind:
Für komplexe Umgebungen muss sich ein adäquates Projektmanagement auf Folgendes einstellen:
Vergleicht man diese Punkte mit den obigen Merkmalen des agilen Mindsets, so ist leicht ersichtlich, dass der Agile Mindset als direkte Antwort auf ein Management unter chaotischen Bedingungen betrachtet werden kann. Der Agile Mindset stellt somit eine Bereicherung für das Management komplexer Großprojekte dar. Doch wo liegen die Anwendungsmöglichkeiten und ihre Grenzen?
Softwareprojekte zeichnen sich durch einen großen Gestaltungs- und Lösungsraum aus. Auch können Änderungen selbst in späten Abwicklungsphasen relativ einfach umgesetzt werden. Ein zusätzlicher, wesentlicher Aspekt des Agile Managements ist es, dass Teillösungen umsetzbar sind und bereits einen Kundennutzen haben.
Anlagen und Bauprojekte verhalten sich in der Regel anders. Der Lösungsraum wird von Projektphase zu Projektphase stärker eingegrenzt. Änderungen kosten immer mehr, je später sie eingesteuert werden. In späten Phasen sind sie oft finanziell nicht mehr zu rechtfertigen.
Auch wird ein wirklicher Kundennutzen in der Regel erst erreicht, wenn das Gebäude oder die Anlage wirklich fertiggestellt und vollständig in Betrieb genommen wurde.
Modular aufgebaute Systeme sind dann hilfreich, wenn die Module jeweils einen eigenen Nutzen haben. Gleichzeitig reduzieren sie die Komplexität und machen von daher einen agilen Managementansatz gegebenenfalls überflüssig.
Neben diesen generellen Betrachtungen können aber auch regulative Gründe vorliegen, die eine Einführung Agiler Methoden erschweren, wenn nicht gar verhindern. So verlangen z.B. Sicherheitsaspekte im Pharmaanlagenbau ab Beginn der Designphase ab dem AFD Status (Approved For Design) eine klare schriftliche Dokumentation aller Änderungen. Eine umfassende Dokumentation zu Gunsten einer schnelleren funktionalen Umsetzung zu vernachlässigen, wie im Agilen Manifest beschrieben [4] verhindert in diesem Umfeld die Erteilung der Betriebserlaubnis.
Im Baubereich wiederum steht die HOAI selbst einer hohen Änderungsdynamik entgegen. Vergütungen orientieren sich an kalkulatorischen Werten oder an tatsächlich anrechenbaren Kosten des Bauwerks. Ein Planer wird immer an der schnellen Umsetzung interessiert sein. Das Vergütungsmodell bevorzugt also einen linearen Planungsansatz. Iterationen zur Optimierung, die das Vereinbarte wieder in Frage stellen, werden finanziell nicht belohnt.
Agiles Management ist besonders in frühen Projektphasen geeignet, kreative Konzepte zu entwickeln. Der Lösungsraum ist offen, physische und/oder finanzielle Restriktionen schlagen kaum durch und der schnelle Austausch von Informationen, die Integration der Nutzer, des Kunden sowie weiterer Stakeholder ist auch hier wesentlich.
Im Verlauf des Projektes werden die Restriktionen von Phase zu Phase größer und konzentrieren sich zunehmend auf die Umsetzung konkreter Ziele. Wie unterschiedlichen physikalischen Phasen oder Aggregatzustande (gasförmig, flüssig, fest) verhalten sich auch die Projektphasen unterschiedlich und erfordern ein angepasstes Management.
Folglich rücken im Verlauf der Abwicklung klassische PM-Methoden in den Vordergrund und Agile Vorgehensweisen treten zurück. Es ist also nicht verwunderlich, dass gerade im Baustellenbereich heute Lean Management Methoden mit ihrem Ursprung im Produktionsbereich übertragen werden und von Agile Management kaum die Rede ist.
Und dennoch, in volatilen Umwelten bleibt es nicht aus, sich selbst und auch das bereits Vereinbarte zu hinterfragen, sich den veränderten Umständen anzupassen und sich neu aufzustellen. In diesen Momenten können ein agiler Mindset und agile Methoden auch in klassischen Projekten, quasi als Inseln der Agilität, hilfreich sein und unterstützend wirken.
Somit ist bei einer geplanten Transformation zur Agilen Projektabwicklung oder zum Agilen Unternehmen sehr genau zu analysieren, in welch einem Umfeld man sich bewegt. Bis zu welchem Grad wird Agilität benötigt oder ist nicht eine hybride Organisation und Vorgehensweise gefragt?
Inseln der Ordnung in Agilen Unternehmen und Inseln der Agilität in eher klassisch strukturierten Projekten und Unternehmen sind nicht ausgeschlossen.
[1] Digitalisierung im Projekt- und Prozessmanagement, Volker Engelke, Nov. 2016, Consenzum Unternehmerbrief
[2] Management 4.0: Handbook for Agile Practices, Release 3, Alfred Oswald und Wolfram Müller (Herausgeber), 2019, BoD – Book on Demand,
[3] Chaos und Projektmanagement – Ein Beitrag zur Entwicklung eines neuen PM – Verständnisses, Volker Engelke , 1996, veröffentlicht in der Fachzeitschrift ‚Projekt Management’ 4/96 der Deutschen Gesellschaft für Projektmanagement (GPM)
[4] http://agilemanifesto.org/iso/de/manifesto.html, aufgerufen 18.11.2020
[5] How the other Fukushima Plant Survived, Ranjay Gulati, Charles Casto und Charlotte Krontiris, Havard Business Review, July-Aug 2014